Folge 71 - Politische Lyrik (Bürger, Gellert, Fontane, Grass)
Lyrikschule - En podcast af Johannes Thiele
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Wie funktionieren politische Texte? Was sind ihre Strategien? Das wird in dieser Folge an 4 Beispielen gezeigt. Die ersten beiden Texte sind von Gottfried August Bürger (der Bauer an seinen durchlauchtigen Tyann) und Christian Fürchtegott Gellert (das Kutschpferd). Ich kann sie hier leider nicht vollumfänglich zitieren, da die Shownotes auf 4000 Zeichen begrenzt sind. Dafür aber im Folgenden die anderen beiden Texte in ganzer Länge: Theodor Fontane Berliner Republikaner (um 1841) Berliner Jungen scharten sichVor einiger Zeit allabendlichNicht weit vom KupfergrabenUnd sangen gottserbärmlich: „Wir brauchen keenen Kenig nich, Wir wollen keenen haben!“ Da endlich packt ein FußgendarmNicht eben allzuzart am ArmDen allergrößten Jungen, Und spricht: „He, Bursch, juckt dir das Fell, Du Tausendsapperments-Rebell?Was hast du da gesungen?“ Doch der Berliner comme il fautErwidert: „Hab Er sich nicht so, Und laß Er sich begraben; Wozu denn gleich so ängstiglich,Wir brauchen keenen Kenig nich,Weil wir schon eenen haben!“ Günter Grass Was gesagt werden muss (2012) Warum schweige ich, verschweige zu lange,was offensichtlich ist und in Planspielengeübt wurde, an deren Ende als Überlebendewir allenfalls Fußnoten sind. Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag,der das von einem Maulhelden unterjochteund zum organisierten Jubel gelenkteiranische Volk auslöschen könnte,weil in dessen Machtbereich der Baueiner Atombombe vermutet wird. Doch warum untersage ich mir,jenes andere Land beim Namen zu nennen,in dem seit Jahren - wenn auch geheimgehalten -ein wachsend nukleares Potential verfügbaraber außer Kontrolle, weil keiner Prüfungzugänglich ist? Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes,dem sich mein Schweigen untergeordnet hat,empfinde ich als belastende Lügeund Zwang, der Strafe in Aussicht stellt,sobald er mißachtet wird;das Verdikt "Antisemitismus" ist geläufig.Jetzt aber, weil aus meinem Land,das von ureigenen Verbrechen,die ohne Vergleich sind,Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird,wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auchmit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert,ein weiteres U-Boot nach Israelgeliefert werden soll, dessen Spezialitätdarin besteht, allesvernichtende Sprengköpfedorthin lenken zu können, wo die Existenzeiner einzigen Atombombe unbewiesen ist,doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will,sage ich, was gesagt werden muß. Warum aber schwieg ich bislang?Weil ich meinte, meine Herkunft,die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist,verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheitdem Land Israel, dem ich verbunden binund bleiben will, zuzumuten. Warum sage ich jetzt erst,gealtert und mit letzter Tinte:Die Atommacht Israel gefährdetden ohnehin brüchigen Weltfrieden?Weil gesagt werden muß,was schon morgen zu spät sein könnte;auch weil wir - als Deutsche belastet genug -Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschulddurch keine der üblichen Ausredenzu tilgen wäre. Und zugegeben: ich schweige nicht mehr,weil ich der Heuchelei des Westensüberdrüssig bin; zudem ist zu hoffen,es mögen sich viele vom Schweigen befreien,den Verursacher der erkennbaren Gefahrzum Verzicht auf Gewalt auffordern undgleichfalls darauf bestehen,daß eine unbehinderte und permanente Kontrolledes israelischen atomaren Potentialsund der iranischen Atomanlagendurch eine internationale Instanzvon den Regierungen beider Länder zugelassen wird. Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern,mehr noch, allen Menschen, die in dieservom Wahn okkupierten Regiondicht bei dicht verfeindet lebenund letztlich auch uns zu helfen.